Transition News: Wie kam es dazu, dass Sie die Zustände in den deutschen Gefängnissen genau kennenlernen konnten?
Linus Förster: Das hat damit zu tun, dass ich selber straffällig geworden bin und zuerst in Untersuchungshaft war. Als ehemaliger Ausschussvorsitzender des Europaausschusses hat man bei mir Fluchtgefahr festgestellt, weil ich ja von Amts wegen überall hin Beziehungen hätte. Und so habe ich die U-Haft in Augsburg kennengelernt, in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Gablingen, die vor kurzem wegen Foltervorwürfen traurige Berühmtheit erlangt hat. Nachdem ich verurteilt worden war, bin ich in die JVA nach Amberg gekommen.
Wie sah Ihr Leben vor der Inhaftierung aus?
Ich war vor der Haft Landtagsabgeordneter im Bayerischen Landtag. Ich habe somit zwei extreme Pole durchlebt. Denn einerseits ist man als Landtagsabgeordneter für Gesetze mit zuständig – wobei ich für die SPD im Landtag war und somit in Bayern zur Opposition gehörte. Aber man hat trotzdem einen gewissen Einfluss auf Gesetzesberatungen und -verabschiedungen. Und andererseits war ich stellvertretender Vorsitzender eines Gefängnisbeirats. Als ich dann selbst in Haft war, konnte ich feststellen, dass ich als Gefängnisbeirat keine Ahnung und echt versagt hatte.
Ich zitiere aus Ihrem Buch: «Der Idealismus, mit dem ich in die Politik gegangen bin und der Enthusiasmus, der mein Handeln begleitet hatte, sind schwer zerbröckelt zurückgeblieben.» Können Sie das bitte näher erklären?
Das hat zur Idee beigetragen, dieses Buch zu schreiben. Man geht ja mit einem bestimmten Menschenbild und bestimmten Vorstellungen in die Politik. Ich habe keine typische Parteikarriere gemacht, sondern war Seiteneinsteiger, als ich in den Landtag gewählt worden bin. Aber man hat dann doch irgendwo so die Vorstellung, dass das Gute und das Gerechte immer siegen werden und dass man seinen Anteil dazu beiträgt.
Und da hat einfach viel gebröckelt. Ich habe festgestellt, dass Politiker teilweise keine Ahnung davon haben, wie es in der Haft zugeht. Das Gesetz sieht eigentlich vor, dass ein Landespolitiker der regierenden Parteien und einer der Oppositionsparteien dafür sorgen, dass in jedem Gefängnis die Inhaftierten ihre Rechte bekommen. Ich habe immer gedacht, dass ich auf der Seite der Entrechteten und Verfolgten stehe, und musste aber feststellen, dass ich diesbezüglich wirklich versagt habe. Ich bin teilweise auch getäuscht worden. Denn von den Haftanstalten oder auch dem Ministerium bekommt man nur sehr selektive Informationen. Und Politiker versagen dann, wenn sie sich die entsprechenden Informationen nicht erstreiten.
Ich will mit meinem Buch zur Diskussion anregen, damit ehemalige Kollegen und jene, die nach mir in die Landtage kommen, sich Gedanken über den Strafvollzug machen.
Warum sollte sich die Gesellschaft für die Geschichten von Inhaftierten, deren Sorgen und Nöte und für die Probleme im Strafvollzug interessieren?
Das beste Argument, warum man sich dafür interessieren sollte, ist, dass Unmengen an Geld ausgegeben werden, um Gefängnisse aufrechtzuerhalten. Denn viele gehören da eigentlich nicht hinein. Ein Beispiel: Wer mehrfach ohne Fahrkarte erwischt wurde und die Strafe nicht zahlt, kommt in Beugehaft. Das heißt, er kommt ins Gefängnis und muss seine Strafe absitzen. Nehmen wir mal an, ein Arbeitsloser hat 200 Euro Strafe und kommt in den Knast. Dann hat der einen Tagessatz von 10 Euro. Das bedeutet, er sitzt 20 Tage im Gefängnis. Allerdings kostet jeder Tag Gefängnis pro Person rund 150 Euro. Da wird also viel Steuergeld verschwendet.
Warum man sich interessieren sollte, hat aber auch mit Menschlichkeit zu tun, wobei ich jetzt aus Tätern keine Opfer machen will. Aber eine gewisse Empathie, warum manche Leute straffällig werden, ist durchaus angebracht. Es macht einen Unterschied, ob jemand wie Uli Hoeneß mehrere Millionen an Steuern unterschlägt, um sich damit selbst zu bereichern, oder ob jemand zwei Semmeln klaut, weil er Hunger hat. Und deswegen sollte es auch Politiker geben, die sich damit auseinandersetzen, welche Strafe für welche Tat angebracht ist.
Und ich denke, bei sehr vielen Menschen, die straffällig geworden sind, wäre es besser, sie würden eine Strafe bekommen, die auch mit der Tat zu tun hat und sie zum Nachdenken bringt. Wenn beispielsweise ein Räuber, der einer alten Frau die Handtasche geklaut hat, worauf die Frau gestürzt ist und sich verletzt hat, einfach einige Tage die Frau versorgen muss, dann denkt er bestimmt anders drüber nach, als wenn er ein paar Tage im Knast sitzt. Zumal ein Gefängnis eine ganz eigene Dynamik hat:
Manchmal kommt ein Kleinverbrecher in den Knast und geht als organisierter Verbrecher wieder raus, weil dort eben die entsprechenden Verbindungen vorhanden sind.
Ich bin nicht der Meinung, dass Menschen, die vorsätzlich getötet haben oder Ähnliches, nicht ins Gefängnis gehörten. Aber es gibt – zumindest theoretisch – auch das Gebot der Resozialisierung, das bedeutet: Wenn jemand seine Strafe abgesessen hat, soll er wieder ein normales, tragendes Mitglied der Gesellschaft werden. Insofern sollte man weniger Menschen ins Gefängnis sperren, sondern mit ihnen zum Beispiel eine Therapie machen.
«Gefangen in einer Welt voller Widersinn» lautet der Titel Ihres Buchs. Worin besteht dieser Widersinn?
Der Widersinn besteht in mehreren Punkten: Einerseits werden Menschen inhaftiert, sollen eine Strafe absitzen und dann als bessere Menschen wieder rauskommen. Das ist der größte Widersinn an der ganzen Geschichte.
Andererseits stehen so viele Dinge, die im Knast vor sich gehen, genau dem entgegen, weswegen die Gesellschaft Menschen in Haft steckt. Denn die Gefangenen werden einfach noch tiefer in irgendwelche dummen Angelegenheiten verstrickt. So werden die Menschen nicht geläutert und besser aus dem Gefängnis entlassen, sondern eher krimineller. Und wenn zum Beispiel jemand, der eine Ausbildung macht, in den Knast kommt und dadurch vorbestraft ist, verliert er seinen Ausbildungsplatz. Sobald er wieder draußen ist und sich woanders bewirbt, wird er stigmatisiert und bekommt eben keinen Job oder Ausbildungsplatz mehr.
Strafvollzug dient nicht dazu, die Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Man muss sich einfach mal vorstellen, dass unter den Inhaftierten ungeheuer viele noch halbwegs bis sehr gut mit dem Leben zurechtkommen. Doch dann sind sie vorbestraft, haben Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt und werden unter Umständen von Freunden und Verwandten gemieden. All dies führt dazu, dass diese Menschen einen sozialen Abstieg machen. Es ist nicht unbedingt bei jedem so eine große Fallhöhe, wie vom Landtagsabgeordneten zum Haftentlassenen, der fünf Jahre kämpfen musste, um überhaupt wieder eine Chance auf einen Arbeitsplatz zu bekommen.
Und wenn jemand, der kleine Diebstähle begangen hat, im Knast an die falschen Leute gerät, nach der Entlassung keinen Arbeitsplatz findet, seine Frau ihn inzwischen verlassen hat und so weiter, dann führt das meistens eher zum Abstieg als zum Wiedereinstieg in die Gesellschaft.
Sie verwenden auch den Begriff «Assozialisierung».
Der Begriff Assozialisierung hat natürlich auch was mit dem Leben im Knast zu tun. Das sind ja nicht nur Betbrüder, die gemeinsam über ihre Taten nachdenken. Sondern es gibt Rädelsführer, Leute, die einen bald spüren lassen, was Macht auch in der Haft ist. Und dann kann man sich dagegen wehren – davon ist eher abzuraten – oder man ergibt sich und wird Opfer oder man versucht, das Wohlgefallen des Rädelsführers zu wecken, womit man allerdings weiter in die Kriminalität abrutscht.
Was versteht man unter Haftschäden?
Haftschäden können psychischer Natur sein. Und sie treten auch bei Angehörigen auf. Wenn zum Beispiel die Frau die Kinder betreut, der Mann das Geld verdient, dann aber in Haft kommt und damit seinen Job und sein Einkommen verliert. Dadurch stürzen auch seine Frau und die Kinder ab, müssen aus der Wohnung raus und so weiter. Dazu der Makel, dass sie ja die Familie eines Verbrechers seien. Aber in erster Linie versteht man unter Haftschäden das, was Gefängnis mit einem und den Angehörigen macht.
Und die Untersuchungshaft ist das Grausamste. Man darf nicht arbeiten. Man sitzt im Endeffekt auf seiner Zelle und kann sich auch nicht mit seiner Strafe auseinandersetzen, weil die ja noch gar nicht entschieden ist. Man weiß nicht, wie das Urteil ausfällt oder wie lange man im Gefängnis bleiben muss. Es ist ein fürchterlicher Zustand, man hängt einfach im Nichts. Man weiß nicht mal, weswegen man angeklagt wird, da die Staatsanwaltschaft noch ermittelt. Und das ist das Schlimme an der Untersuchungshaft.
Es ist manchmal wirklich eine Erleichterung, wenn man aus der Untersuchungshaft rauskommt, weil man dann weiß, wie lange man in den Knast muss, und so damit umgehen kann.
Verfolgen Sie, wie mit den Menschen verfahren wird, die rund um Heinrich XIII Prinz Reuß verhaftet wurden und seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzen?
Wenn bestimmte Leute in Haft kommen, dann stellt sich immer die Frage, wie langsam kann, muss oder darf eine Staatsanwaltschaft ermitteln? Man nimmt doch jemanden wegen eines ganz konkreten Tatvorwurfs in U-Haft, aber ermittelt wird erst danach? Eine Untersuchungshaft, die sehr lange dauert, muss man hinterfragen. Überhaupt ist das eine sehr schwierige Angelegenheit, das habe ich in meinem Buch auch beschrieben. Denn die Untersuchungshaft wird oft willkürlich verhängt – darauf deutet einiges hin. Es reicht aus, dass die Staatsanwaltschaft Fluchtgefahr oder Zeugenbeeinflussung annimmt. Viele bezeichnen die Untersuchungshaft als Folter. Man hat noch Glück, wenn man in einer Mehrpersonenzelle sitzt, dann hat man wenigstens jemanden zum Reden – vorausgesetzt, die Zellengenossen sind halbwegs okay – die können einen auch ganz schön quälen und erniedrigen.
Man hat in Untersuchungshaft eine Stunde Hofgang, das steht jedem zu. Da geht man dann im Kreis mit anderen U-Häftlingen oder vielleicht auch mit anderen Häftlingen, aber das ist der einzige Kontakt zu den anderen – vielleicht noch bei der Essensausgabe. Und es ist je nach Haftanstalt unterschiedlich, ob und wie lange die Zelle offenbleibt und ob man auf seinem Gang Leuten begegnen kann. Das heißt, die meiste Zeit ist man allein in der Zelle.
Wenn die Angehörigen von außen Geld reinschicken, kann man sich einen Fernseher und ein Radio ausleihen. Aber irgendwann hat man natürlich genug davon, im Fernsehen Nachmittagsendungen anzuschauen oder Bücher zu lesen. Einem Inhaftierten, der kein Deutsch spricht, nützen auch der Fernseher oder das Radio nichts, weil es nur eine begrenzte Anzahl an Programmen gibt. Und Bücher in seiner Sprache gibt es wohl kaum. Er ist natürlich am schlimmsten dran. Aber auch wenn man Fernseher, Radio und Bücher hat, man ist immer allein.
Stichwort Unschuldsvermutung: Was macht die U-Haft mit einem? Und wie kann die Untersuchungshaft reformiert werden?
Das macht was mit den Menschen. Aber die Frage ist: Erstens, ob wirklich so viele Leute in Untersuchungshaft müssen? Wenn es darum geht, die Untersuchungshaft anders zu gestalten, muss die Unschuldsvermutung in den Vordergrund gerückt werden. Dann müsste man die Untersuchungshäftlinge nicht als besonders harte Gefängnisinsassen sehen, sondern eher als Leute, die eventuell unschuldig wieder frei kommen. Man könnte sie wenigstens entsprechend unterbringen: nicht in einer kahlen Zelle, sondern in einem eigenen «Untersuchungsgefängnis», in dem normaler Kontakt zwischen den Inhaftierten stattfindet und sie einer Tätigkeit nachgehen können.
Die Tätigkeiten, die man in Haft machen kann, sind nicht unbedingt die spannendsten – man schraubt den ganzen Tag irgendwelche Sachen zusammen –, aber man ist wenigstens unter Menschen, hat etwas zu tun, und es gibt einen Tagesablauf. Und das haben Untersuchungshäftlinge alles nicht. Wenn ich Leute, die als unschuldig gelten, einsperre, weil ich verhindern will, dass sie andere beeinflussen oder flüchten, dann muss ich ihnen die Möglichkeit geben, etwas Sinnvolles zu tun, sie entsprechend unterbringen und sie nicht die Härte eines Knastes spüren lassen.
Wie beeinflusst die Medienberichterstattung den Umgang der Häftlinge untereinander?
Oh, sehr extrem. Nehmen wir als Beispiel die Justizvollzugsanstalt Gablingen, hier in Bayern. Die empfangen ARD und ZDF, aber auch das Augsburger regionale Fernsehen. Medien dürfen bei Personen nicht öffentlichen Interesses nur den Vornamen und den ersten Buchstaben des Nachnamens nennen, aber manchmal kann man trotzdem Rückschlüsse auf jemanden ziehen. Und wenn er eine Tat begangen hat, die in anderen Kulturkreisen sehr verpönt oder allgemein in Täterkreisen verwerflich ist, dann ist er natürlich Anfeindungen oder auch Körperverletzungen ausgeliefert. Und da reicht oft das Gerücht, dass jemand seine Mutter getötet oder kleine Kinder missbraucht haben soll, dann ist es quasi eine Ehre, wenn man den in der Haft schlagen oder verletzen kann.
Bei Personen des öffentlichen Interesses, zu denen auch ich gehöre, dürfen Medien den ganzen Namen nennen und Fotos veröffentlichen. Und diese Medienberichterstattung formt ein gewisses Bild, das von der Gesellschaft zurückgespiegelt wird. Und das hat wiederum Einfluss auf die Rechtsprechung.
Und auf die Mitgefangenen?
Auf die Mitgefangenen natürlich auch. Wobei das unterschiedlich ist. Es gibt Taten, die im Knast Sympathie wecken. Und es gibt natürlich eine politische Dimension. Ein Ausländer, der angeblich eine Straftat an einem Deutschen begangen haben soll, muss aufpassen, dass er mit Deutschen kein Problem bekommt. Ein Deutscher, der angeblich einen Araber verletzt haben soll, muss aufpassen, dass er im Knast nicht an Araber gerät. Und dann ist die Frage, ob die Justizvollzugsbeamten wirklich einschreiten, um die Gewalt zu verhindern, oder ob sie sich ein bisschen mehr Zeit lassen als nötig.
Haben Sie Misshandlungen durch JVA-Beamte erlebt oder beobachtet?
Mir ist das nicht widerfahren, weil ich in meiner Haftzeit ständig von amtierenden Politikern aller politischen Couleurs besucht wurde. Und da hat man natürlich aufgepasst, dass mir niemand etwas antut, aber auch, dass ich nicht so viel mitbekomme.
Normalerweise soll ein Gefängnisbeirat genau so etwas verhindern: Inhaftierte können einen Brief an den Gefängnisbeirat schreiben, wenn sie diskriminiert, gemobbt oder misshandelt werden. Und der Abgeordnete hat dann eigentlich die Aufgabe, das im Gespräch mit der Gefängnisleitung vorzubringen und dagegen vorzugehen. Der eine oder andere Politiker ist aber entweder selbst zu voreingenommen, zu faul, oder, so wie ich früher, glaubt den Vertretern des Gefängnisses, die eine Gegendarstellung machen. Und da ergibt sich die Frage: Ist es die Aufgabe eines Gefängnisbeirats, der eigentlich die Interessen der Gefangenen vertreten soll, dass er der Justiz glaubt?
Sie schildern in Ihrem Buch sehr eindringlich die Vorgänge in Gefängnissen und stellen Form, Ablauf und Sinn des gängigen Strafvollzuges infrage. Was muss sich konkret ändern?
Also, wie ich vorhin schon gesagt habe: Wir müssen die Gefängnisse leerer machen, indem wir Menschen mit Bagatellvergehen nicht zu Gefängnisstrafen verurteilen, sondern zu gemeinnütziger Arbeit oder so etwas. Da haben beide Seiten was davon, und es entstehen keine Kosten für die Steuerzahler.
Reiche werden oft zu Geldstrafen verurteilt, damit sie nicht ins Gefängnis müssen. Hier sollte man auch hinterfragen, welche Rolle die Kontakte zwischen Rechts- und Staatsanwälten spielen, wenn es zu diesen sogenannten Deals kommt.
Ich bin als Sexualstraftäter verurteilt worden. Allerdings hat der Richter festgehalten, dass die sexuellen Handlungen alle einvernehmlich waren. Ich habe heimlich gefilmt. Das ist Gewalt an der Person. Der Richter wollte eigentlich, dass ich möglichst bald rauskomme und eine Therapie wegen Narzissmus mache. Der Richter hat festgehalten, dass ich kein Sexualstraftäter im eigentlichen Sinne bin und dass ich vielmehr wegen einer narzisstischen Störung, die zu meinen Straftaten geführt hat, therapiert gehöre. Es gibt diese Therapien zu Gewalt- und Sexualstraftaten aber nur im Knast.
Eigentlich sollte jeder, der eine Tat begeht, mit dieser konfrontiert werden. Menschen, die während ihrer Haft in Therapie waren, haben eine wesentlich geringere Rückfallquote. Daher sollte einfach das Prinzip gelten, dass Menschen im Gefängnis nicht einfach Zeit totschlagen, sondern dass man versucht, ihnen Struktur und Denkanstöße zu geben. Im Endeffekt braucht es gruppentherapeutische Gespräche, bei denen man den anderen seine Tat erzählen muss, sich so damit auseinandersetzen kann und darüber diskutiert. Das kann sehr viel Einsicht bringen. Und es kann natürlich auch sehr unangenehm sein. Aber in dem Sinne unangenehm, dass man sich vielleicht beim nächsten Mal genauer überlegt, ob man wieder eine Tat begeht.
Und dann gibt es natürlich auch noch den ganzen Bereich der Begleitumstände. Wenn ich möchte, dass jemand nach seiner dreijährigen Strafe wieder in die Gesellschaft integriert wird, warum gibt es dann Gefängnisse, wo man nur zweimal im Monat für eine Stunde Besuch bekommt? Ich habe einen Berg von Mann mit mir in Haft gehabt. Beim Besuch saß er einmal neben mir. Seine Frau war mit zwei Kindern gekommen. Eines war ganz klein und hatte den Vater so oft nicht mehr gesehen, dass es zu weinen anfing, als er ihm zum Abschied über die Trennscheibe ein Küsschen geben wollte. Das Kind und der Vater werden nach den drei Jahren kein Verhältnis mehr aufbauen können. Auch sehr viele Partner warten letztendlich nicht, sondern trennen sich.
Mit Maßnahmen wie diesen, schafft es niemand so ohne weiteres wieder zurück ins Leben. Gefangene sollten letztendlich nicht in einem Stahlgittergefängnis aus Beton gehalten werden, sondern man sollte ihnen in Gruppen und von der Gesellschaft abgegrenzt die Chance geben, ein halbwegs normales Leben zu leben.
Sie haben 2015 in Brasilien mit einer Delegation des Landtages eine Straffälligen-Vereinigung, namens Associacao de Protecao e Assistencia aos Condenados, kurz APAC, besucht. Lief das dort so ab?
Ja, diese Art Dorf, war eine Reintegrationsvorbereitung. Wenn die Leute ganz normal miteinander leben, sich versorgen und Handel treiben, dann müssen sie natürlich Rücksicht nehmen und Kompromisse finden. Das ist das Prinzip dahinter.
Die Zahlen, die man uns genannt hat, besagen, dass im normalen Strafvollzug in Brasilien die Rückfallquote ungefähr bei 70 Prozent liegt und in diesem Reintegrationszentrum bei 20 Prozent. Natürlich sind das immer noch 20 Prozent zu viel, aber es sind natürlich traumhafte Ergebnisse für die Resozialisierung und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
Sie erwähnen im Nachwort auch das Beispiel Norwegen. Wie geht dieser skandinavische Staat mit Straftätern um?
Die bauen die Haft anders auf. Es geht immer um Resozialisierung und Reintegration. Die Leute arbeiten wesentlich häufiger auch außerhalb der Gefängnismauern und zwar schon am Anfang ihrer Haft. In Deutschland heißt das Freigänger und den bekommt man erst am Ende der Haftzeit und bei guter Führung. In Norwegen können Häftlinge den Beruf ausüben, den sie gelernt haben. Es geht weniger um Wegschließen, sondern auch darum, Kontakte zu halten. Es gibt zum Beispiel Liebeszimmer. Das heißt, dass ein Inhaftierter von seiner Frau besucht werden kann, um abgeschieden Sex zu haben oder einfach nur zu kuscheln.
In einer deutschen Haftanstalt spielt sich die humanste Form des Besuchs an einem Tisch in einem sogenannten «Café» ab. Das ist meistens ein ziemlich öder Raum, in dem ein paar Tische mit Stühlen stehen. Man sitzt einander gegenüber, und Händchenhalten ist das höchste der Gefühle. In Norwegen will man Beziehung und Familie aufrechterhalten, das Verhältnis stärken. Es gibt auch partnerschaftliche Therapien, bei denen es darum geht, welchen Anteil der Partner haben kann, damit die Reintegration in die Gesellschaft gelingt.
Sie schreiben von fehlenden Chancen und der Inkonsequenz in unserem System der Resozialisierung. Wie können wir Menschen, die ihre Strafe abgebüßt haben, die Rückkehr in die Gesellschaft ermöglichen?
Also da nehme ich einfach mein Beispiel. Ich war, bevor ich straffällig geworden bin, ein sehr anerkannter Bürger dieser Gesellschaft, ein beliebter regionaler Politiker, der im Landtag saß. Ich hatte sogar für meine Verdienste eine Auszeichnung der Stadt Augsburg bekommen, als ich noch ehrenamtlicher Jugendringvorsitzender war.
Also ich war ein wirklich anerkannter Mensch. Dann bin ich straffällig geworden und kam in Haft. Laut Gesetz bin ich, wenn ich entlassen werde, wieder ein normales Mitglied dieser Gesellschaft. Aber ich hatte Riesenprobleme einen Job zu finden.
Ehemalige Landtagskollegen wollten mich einstellen. Das hat dann Ilse Aigner als Landtagspräsidentin verboten, damit die Öffentlichkeit nicht sagen könne, die Politiker hielten alle zusammen. Diakonie und Caritas wollten mich einstellen. Da hieß es aber, dass Straffälligkeit und Arbeit mit Asylbewerbern nicht zusammenpasst. Etliche durften mich also nicht einstellen. Und wenn ich mich irgendwo beworben habe, wo man mich nicht kannte, hat man mich gegoogelt.
Und da sind wir wieder bei den Medien. Die Staatsanwaltschaft hat bei mir jeden Verdacht sofort an die Presse weitergegeben, egal ob dieser sich letztendlich als wahr oder falsch herausgestellt hat. So kann man Leuten, bei denen öffentliches Interesse besteht, maximal schaden. Es entstehen Vorurteile und die erschweren die Reintegration. Man ist nicht wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, sondern das Etikett «Täter» bleibt an einem kleben. Dabei habe ich ein Vorleben. Natürlich habe ich eine Straftat begangen, und ich stehe dazu – ich hätte sonst kein Buch unter meinem echten Namen geschrieben. Aber mir geht es eben auch darum, dass ich mehr in meinem Leben gemacht habe als diese Tat. Ich habe auch etwas Gutes getan, also gebt mir doch eine Chance.
«Und wertvoll sind all diejenigen, die sich von Anfang an, von der U-Haft bis zur Entlassung aus der Strafhaft, erinnern, dass man mal mehr war als nur ein Straftäter, der überführt, verurteilt und zuletzt hinter Gitter gebracht wurde, wo er dann seine Strafe verbüßt.» Das ist ein Zitat aus Ihrem Buch. Ihre Haft haben Sie verbüßt. Haben Sie es zurück ins Leben geschafft? Welche Rolle spielte Ihr soziales Umfeld dabei?
Mein Vorteil war, dass meine Freunde, meine Familie, die Musiker – ich war in Augsburg sehr stark in der Amateur-Musikszene drin – gesagt haben: «Wir kennen ihn, und das, was da teilweise behauptet wird, stimmt einfach nicht. Wir wissen, wie er drauf ist. Er hat Scheiße gebaut. Das ist schlimm. Aber wir wissen, dass er mehr ist als ein Straftäter.»
Ich habe sehr viel Rückhalt gehabt und konnte relativ schnell wieder ganz normal in der Gesellschaft leben. Nur Geld zu verdienen, war schwierig. Da ich Rücklagen hatte, konnte ich keinen Antrag auf Bürgergeld stellen, sondern musste meine Ersparnisse aufbrauchen. Es ist natürlich ganz schön heftig gewesen, aber jetzt habe ich wieder einen Job. Weil eben auch jemand gesagt hat: «Ich weiß, wie du als Mensch bist. Ich weiß, dass du okay bist. Du hast Scheiße gebaut. Aber das ist Vergangenheit.»
Haben Sie noch Kontakt mit Gefangenen?
Ich habe das Buch so aufgebaut, dass ich meistens die Geschichte von ein oder zwei Gefangenen erzählt und dann dazu Stellung genommen habe. Und einige waren neugierig, was ich geschrieben habe, so ist der Kontakt aufrechtgeblieben. Es entstehen im Knast natürlich auch Freundschaften. Nicht viele, weil die meisten, wenn sie wieder aus dem Gefängnis draußen sind, mit den anderen nichts mehr zu tun haben wollen.
Welche Initiativen in Deutschland bemühen sich um einen konstruktiven und zukunftsorientierten Umgang mit Straffälligkeit?
Da gibt es einige Initiativen, die meisten sind in Trägerschaften von kirchlichen und sozialen Verbänden und vor allem regional aktiv. Eine Vielzahl an Initiativen und Organisationen setzen sich für einen konstruktiven und zukunftsorientierten Umgang mit Straffälligkeit ein. Ein wichtiger Akteur ist beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S), die Organisationen vernetzt, um straffällig gewordene Menschen besser in die Gesellschaft zu integrieren. Sie arbeitet eng mit der Opferhilfe zusammen. Ein weiteres Beispiel ist die Diakonie Deutschland, die straffällige Menschen dabei unterstützt, eine Wohnung oder Arbeit zu finden. Die Zusammenarbeit ist freiwillig und vertraulich – ein wichtiger Aspekt, um Betroffenen eine echte Chance auf Neuanfang zu bieten.
Buch:
Linus Förster: «Gefangen in einer Welt voller Widersinn»